In der Nacht vom 9. / 10. 11. 2023 jährte sich zum 85. Mal die „Reichsprogromnacht“:
Jüdinnen und Juden wurden gequält, ermordet und verschleppt – auch im Gebiet unserer jetzigen Pfarre wurde eine Synagoge (Siebenbrunnengasse) niedergebrannt – trauriger Höhepunkt einer jahrhundertelangen Geschichte des Antisemitismus.
Und traurig: Die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten lassen den Antisemitismus neu erblühen, Vorurteile wachsen, Fronten verhärten, Unfrieden und Angst steigen.
Doch: Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung ist nicht automatisch Antisemitismus.
Versuchen wir ein paar Dinge zu ordnen:
Der Konflikt im Nahen Osten hat eine lange Geschichte – längst ist er nicht mehr ein primär religiöser Konflikt (Muslim <-> Juden; auch palästinensische Christen werden verfolgt, Ungläubige sind genau so Kriegstreiber, …).
Es gibt auf mehreren Seiten eine Terror-Vorgeschichte einzelner Terroristen, oft auch verbrecherisches Vorgehen von Gruppen und Staaten (Terror-Unterstützung, Siedlungspolitik, …).
Vor einem Monat gab es einen Terror-Überfall der Hamas auf Israel (dem am meisten demokratischen Staat der Region) – 1.200 Todesopfer (der schlimmste Tag für Juden seit der Naziherrschaft!), Geiselnahme, Verletzte, Zerstörung. Gerade auf Hintergrund unserer Geschichte (und traurigerweise auch „christlich“ verursachtem Antisemitismus) gilt es, dieses Verbrechen klar zu verurteilen. Verbrechen nicht als solche zu benennen oder undifferenziert zu bagatellisieren („Sind alle schuld!“, „Wir haben eigene Probleme!“) macht mitschuldig.
Seither herrscht hier Krieg – die Leittragenden sind wie immer die Zivilbevölkerungen aller beteiligten Staaten: Und Gott steht immer auf der Seite der Armen und Verfolgten. Welcher konkrete Kriegs- oder Verteidigungsakt jeweils völkerrechtlich gedeckt oder gerechtfertigt ist: Das können oft auch Spezialist/inn/en kaum im Detail einschätzen. Hier gilt es einfach um den Frieden zu beten – der menschlich fast unmöglich geworden scheint…
Was aber glaube ich klar ist:
Für uns Christ/inn/en sollten ein paar Positionen Programm sein:
*) Ablehnung jeglicher Vorurteile (Antisemitismus, „die Moslem sind…“, „die …“, Einteilung nach Hautfarbe, Religion, Weltanschauung etc.) – Vorurteile sagen immer deutlich mehr (und eben nichts Gutes) über die einschätzende Person als über die Eingeschätzten aus; so oft sind sie der Keim der großen Katastrophen! Pauschalurteile über Menschengruppen sind immer ein simplifizierendes Problem – nie eine Lösung!
*) Krisenzeiten dieser Art stärken den Ruf nach einfachen Antworten:
-) Die anderen sind (nur) böse, wir sind (nur) gut / völlig unschuldig / …;
-) Wenn dieses eine Problem gelöst, diese eine Gruppe beseitigt, diese eine Person eliminiert ist, dann ist alles gut…
-) Entweder-Oder; keine Grautöne oder Akzeptanz komplexer Wirklichkeiten
-) … und Populisten, Radikale und Fundamentalisten profitieren davon – im Staat, radikale Parteien, aber auch dümmlich-„fromme“ Vereinseitigungen und Radikalisierungen im Religiösen, leere Worthülsen, die den Inhalt oft pervertieren („Stille Nacht“ bei der AfD-Kundgebung).
→ Trauen wir uns zu differenzieren, keine eindeutigen „immer-gültigen“
Antworten zu propagieren, verschiedene Meinungen respektvoll zu hören. Gott hat eine sehr komplexe Wirklichkeit ins Leben gerufen: Ihn ernst zu nehmen heißt, differenzierte Fragestellungen nicht auf einfache Antworten zu reduzieren!
*) Sind wir dankbar, dass es neben „Sozialen Medien“ (oft voll mit ungeprüften oder bewusst falschen Infos und tendenziösem „Spezial- oder Geheimwissen“; Medien, die das Verbleiben in eigener, enger „Bubble“ oft sehr fördern) auch Qualitätsmedien gibt, die prüfen, hinterfragen, differenzieren, zum Denken einladen, statt dieses abnehmen.
Sind wir dankbar für wissenschaftliche Forschung und Fach-Wissen – Gott gibt uns dafür Geist und Phantasie, statt dieses mit billigen Populismen abzukanzeln oder dummer Wissenschafts-Verleugnung anzuhängen!
Sind wir dankbar, in einem Land leben zu dürfen, wo wir diskutieren,
verschiedene Meinungen gelten können, Demonstrationsrecht herrscht (auch wenn man nicht mit den dort propagierten Meinungen übereinstimmen muss) usw.
Gott hat uns Hirn zum Hinterfragen, selbst Denken und aktiv Werden gegeben, uns die Welt in die Hand gelegt, sie kreativ zu gestalten – anders gesagt: Als getaufte/r und gefirmte/r Christ/in die eigene Berufung ernst zu nehmen und zu leben.
Jesus war ein großer Feind aller fixen Vorstellungen, die notfalls über Leichen gehen (mein Linzer Dogmatik-Professor hat immer betont: Jesus, der „größte Antiideologe der Geschichte“): Er hat auf Menschen(lichtkeit) geschaut, billig simplifizierende, eben
„einfache Antworten“ abgelehnt, den einzelnen Menschen geachtet, ernst genommen und aufgebaut, Unheil klar benannt und verurteilt, „Frieden“ geschenkt – „Leben in Fülle“ verkündet; sich klar auf die Seite von Benachteiligten und Armen gestellt… – klare Vorgaben für uns!
Pfarrer Gerald Gump
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.